Predigten

4. Sonntag vor der Passionszeit (02.02.2020)

Pfarrer Dr. Ingo Roer

Predigttext:

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Liebe Gemeinde!

Wie oft haben wir das Vaterunser einfach so zu Gott hin gesprochen, ohne zu bedenken, was uns Menschen damit gesagt ist. Das Vaterunser ist zunächst ein Beispiel für ein ordentliches, nicht ausuferndes Gebet, ein Gebet um Gottes Gaben: Brot, Vergebung, Erlösung.

Ich will in dieser Predigt aufzeigen, was hinter diesem Gebet steht, was uns im Beten zugebilligt wird. Ich will erkennbar werden lassen, was für ein wunderbares Menschenbild sich im Beten zu Gott enthüllt.

In dem wir Gott als unseren Vater ansprechen, sehen wir uns mit allen Menschen als seine Kinder, sehen wir die Unterschiede zwischen Deutschen und Griechen, zwischen Frauen und Männern nicht mehr. Alle, die „Vater unser“ beten, sehen sich als gleiche, Das ist gemeint, wenn wir uns als Schwester und Bruder anreden.

Damit kommt die Ansicht zu Fall, die das antike Denken beherrscht hat und auch heute noch verbreitet ist, die Ansicht von der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Dieses Vaterunser sieht uns als gleichwertige Menschen, macht uns betend dazu, daß wir uns in anderen Menschen und andere in uns erkennen können, ein Blickwinkel, der den Menschen zum moralischen Akteur macht.

Wenn wir den Text des Vaterunsers nach dem Matthäus Evangelium beten, heißt es da: „ … vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben haben. Perfekt! Nicht nur vergeben, sondern bevor wir Gott um Vergebung bitten, sollen wir zu unserem Schuldiger gegangen sein und ihm vergeben haben. Eben: bevor Du in den Tempel gehst, geh hin und versöhne dich mit deinem Bruder.

Wenn wir beten: „… und vergib uns unsere Schuld …“ sollten wir uns zuerst bewußt werden, daß wir schuldfähig sind. Wir sind befähigt, Gutes und Böses zu tun. Und dieses Schuldfähig-Sein wieder bedeutet, ein freier Mensch zu sein, frei zu sein, das Richtige und das Falsche zu tun. Was gut und richtig ist, mißt sich nicht an den jeweiligen Normen der Gesellschaft, sondern an dem Willen des einzigen, ewigen  Gottes. Er ist die Instanz, an der wir mit unserem endlichen Denken und Tun gemessen werden. Dabei sollten wir  uns nicht von unseren Sünden und Ängsten erdrücken lassen, sondern das Positive erkennen: wir sind frei, Gottes durch Jesus Christus erklärten Willen zu entsprechen.

Wenn wir beten: „… und vergib uns unsere Schuld…“, haben wir erkannt, daß wir Gottes Willen nicht entsprochen haben und wir wollen frei werden von unserer Schuld. Ein Unterwerfungspakt?  „Dein Wille geschehe“ ist die Vorbedingung für Erkenntnis und Erneuerung der moralischen Identität. Daraus folgt, daß Gehorsam zu Verstehen führt und nicht umgekehrt Verstehen zu Gehorsam, wie wir meinen.

Interessant: bei Matthäus steht nicht „… und vergib uns unsere Sünden …“ wie bei Lukas, sondern  „…vergib uns unsere Schuld …“. Schuld ist umfassender als Sünde. Schuld meint  schädliches Tun. Schuld meint auch Unterdrückung, Konkurrenz und Apathie, Kollaboration mit dem, was schlecht ist. Schuld ist aber mehr als individuelle Schuld, wie sie üblicherweise auch von Vertretern der Kirche angeklagt wird und wie auch wir es gern sehen. Wir bekennen unsere kleinen individuellen Schulden, Streit, Betrug, Ehebruch und verdrängen unsere V Beteiligung an den Schulden unserer Gesellschaft.

Wenn wir beten: „… vergib uns unsere Schuld…“, kann deutlich werden, worum es im Vaterunsergebet geht: um Freisprechung, um Befreiung des Menschen. Vergebung ist Befreiung.

In diesen Tagen des Gedenkens der Befreiung des KZs Auschwitz heißt es immer wieder: diese Untaten der Deutschen / der Nazis kann „ich“ nicht vergeben. Ich will dem nicht nachgehen, welche individuellen Gründe es dafür geben mag. Das Vaterunser redet von dem, der Schuld begangen hat, nicht vom Opfer.

Wir Menschen kennen verschiedene Formen von Vergebung. Die populärste Form: wir vergessen die Sache. Schon besser: wir erinnern an die Sache.  Wir schaffen ein Denkmal. Wir kompensieren die Sache durch materielle Abgeltung. Das alles sind Formen der Schuldenregulierung der Menschen untereinander, aber nicht Formen des Vergebens. Es gibt in unserer Gesellschaft keine Instanz, die vergibt. So muß Schuld unvergebbar bleiben. Innergesellschaftlich ist Vergebung nicht vorgesehen und bleibt dem christlichen Glauben vorbehalten.

Bei der Bitte „… vergib uns unsere Schuld…“ geht es nicht nur um die individuelle Schuld des Einzelnen, sondern die alles durchdringende Schuld der Verknechtung des Menschen durch den Menschen und um Ermöglichung der Umkehr und Befreiung. Gott vergibt nicht einige Sünden, andere nicht, sondern die umfassende Schuld des Menschen. In einer Gesellschaft, in der Menschen jeweils nur in bestimmten Hinsichten agieren und gebraucht werden, zum Beispiel ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hat ein solches, den ganzen Menschen betreffendes Vergeben keinen Sinn.

Ein Satz wie „Den Ehebruch hätte ich vergeben, aber, daß er mich belogen hat – da ist es für mich aus.“  Drückt die Unmöglichkeit aller Teilvergebung aus. Wer einiges vergibt, anderes aber nicht, vergibt tatsächlich überhaupt nicht und versagt den neuen Anfang. Also, wir sehen, Schuldvergebung im den ganzen Menschen umfassenden Sinn ist in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen.

Ist denn Vergebung „von oben“ möglich? Die traditionelle christliche Antwort auf diese Frage lautet: Gott vergibt den Menschen. Was wir anderen antun oder an ihnen versäumen, soll von Gott vergeben werden. Gerade dort, wo die, die wir beleidigt, ermordet haben, nicht mehr sprechen können, da soll Gott eintreten und vergeben. Das wird fraglich, wenn über die individuelle die gesellschaftliche Schuld mitvergeben werden soll.

Man kann sich das klar machen an der Lage ehemaliger Nazis in unserer Gesellschaft, von der eigenen erkannten und bekannt gewordenen Vergangenheit loszukommen. Beispiele: Walter Jens, Günter Grass. Irrtum und Schuld können nicht öffentlich aufgearbeitet werden. Es gibt keine Instanzen, Verfahren und Bezugsgruppen, die das leisten.

Die Menschen, die mit einem ehemaligen Nazi zusammen sind, müssen ihm seine Reue glauben. Die Familie, vielleicht auch Freunde, können die Annahme des Schuldiggewordenen leisten, aber schon die Arbeitskollegen in der Firma wären damit überfordert. Nur unter der Annahme der Gleichwertigkeit aller Menschen und im Glauben an die Umkehr des Schuldiggewordenen ist seine  moralische Wiedergeburt möglich. Beides hat eminent mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild zu tun.

Also: kann Gott einem bereuenden Menschen die Vergebung schenken und ihm einen neuen Anfang ermöglichen? In der Bergpredigt wird dem, der sich die Vergebung erschwindeln wollte, indem er in den Tempel geht und seine Opfergabe zum Altar bringt (sich also am Schuldiger vorbei direkt an Gott wendet) gesagt: „Laß Deine Gabe vor dem Altar und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und bring deine Gabe her.“

Das traditionelle, christliche Schema unterscheidet die Vergebung, die Gott uns gibt, von der Umkehr, die wir in der Welt vollziehen. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben haben. Die Aufhebung der Isolierung des Einzelnen und seine Rückbindung an den überweltlichen Gott sind im Vaterunser zusammengebracht. Damit wird eine Verknüpfung zwischen dem göttlichen Willen und der menschlichen Handlungsmacht hergestellt. Beide können miteinander verschmelzen und bestätigen noch einmal die Gleichheit der Menschen. Daß Befreiung möglich ist, kann sich in der Umkehr realisieren.

Befreiung ist nur als Befreiung aller möglich. Dostojewski erzählt in „die Brüder Karamasoff“ (7. Buch, 3. Kap.) eine Geschichte, die das Thema der Vergebung in eine politische Beziehung setzt: „Also: es lebte einmal ein altes Weib, das war sehr, sehr böse und starb. Diese Alte hatte in ihrem Leben keine einzige gute Tat vollbracht. Da kamen denn die Teufel, ergriffen sie und warfen sie in den Feuersee. Ihr Schutzengel aber stand da und dachte: kann ich mich denn keiner einzigen guten Tat von ihr erinnern, um sie Gott mitzuteilen? Da fiel ihm etwas ein und er sagte zu Gott: „Sie hat einmal“ sagte er, „in ihrem Gemüsegärtchen ein Zwiebelchen herausgerissen und es einer Bettlerin geschenkt!“ Und Gott antwortete ihm: „Da nimm,“ sagte er, „dieses selbe Zwiebelchen und halte es ihr hin in den See, sodaß sie es zu ergreifen vermag und wenn du sie daran aus dem See herausziehen kannst, so möge sie ins Paradies eingehen, wenn aber das Pflänzchen abreißt, so soll sie bleiben, wo sie ist.“ Der Engel lief zum Weibe und hielt ihr das Zwiebelchen hin. „Hier“, sagte er zu ihr, „faß an, wir wollen sehen, ob ich dich herausziehen kann!“ Und er begann vorsichtig zu ziehen – und hatte sie beinahe schon ganz herausgezogen, aber da bemerkten es die anderen Sünder im See, und wie sie das sahen, klammerten sich alle an sie, damit man auch sie mit ihr zusammen herauszöge. Aber das Weib war böse und stieß sie mit den Füßen zurück und schrie:“ Nur mich allein soll man herausziehen und nicht euch, es ist mein Zwiebelchen und nicht eures.“ Wie sie das aber ausgesprochen hatte, riß das kleine Pflänzchen entzwei und das Weib fiel in den Feuersee zurück und brennt dort noch bis auf den heutigen Tag. Der Engel aber weinte und ging davon.“

Die alte Frau hatte es vergessen, den Engel anzusehen und sich ziehen zu lassen. Indem sie die anderen wegstrampeln will und schreit: „dies ist mein Zwiebelchen“ zerreißt sie es. Menschliches Leben ist nur ganzes menschliches Leben, wenn alle mit gleichem Recht und Anteil dazugehören. Niemand kann sich allein retten und niemand allein vergeben.

So kommen wir zum „Wir“…“wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Um Vergebung der Schuld zu erfahren, brauchen wir eine Gruppe von Menschen, die uns den Wiederanfang ermöglichen, zumindest Partner, die uns annehmen mit unseren Schulden, die uns unsere Reue glauben, die uns die Umkehr zutrauen.

In der Alten Kirche war die Gemeinde ein solcher Ort. Aber unsere Gemeinden sind unverbindlich geworden. Leistungsdruck, Konkurrenzsituationen, Einsamkeit und Unfähigkeit zur Kommunikation, Beharren auf Privilegien sind leider charakteristisch auch für die Gemeinschaft „Christliche Gemeinde“, in der man auch keine Fehler machen, keine Schwäche zugeben darf.

Aber Vergebung ist möglich im Zusammenleben, in verändernder Praxis im Sinne von Gottesliebe, im ökumenischen Leben. …und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern. Das ist ein Wort der Befreiung. Das vor allem! Es macht uns darauf aufmerksam, daß die Realisierung der Liebe Gottes, die unser eigenes Leben darstellen soll, begonnen hat und zugleich noch aussteht. Wir sind der Brief Christi. Sorgen wir dafür, daß er lesbar bleibt. Es gibt keinen anderen Brief Christi, der den Brief, der wir sind, ersetzen könnte. Was für ein wunderbares Menschenbild enthüllt diese Beziehung zu Gott im Vaterunser.

                                                                                                           

Amen

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